Stellungnahme der Elternkammer Hamburg zum Entwurf der Verordnung über die Gewährung von Notenschutz an allgemeinbildenden Schulen

Die Elternkammer Hamburg begrüßt die Verankerung des Notenschutzes im Hamburgischen Schulgesetz, um dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 29.07.2015 (BVerwG 6 C 35.14) Rechnung zu tragen.

Der vorliegende Entwurf der Verordnung über die Gewährung von Notenschutz erfordert folgende Anmerkungen:

§ 1 Ziel

Die Verordnung regelt den Notenschutz nur für „Schülerinnen und Schüler mit besonderen und langanhaltenden Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben“. Die fehlende Ausweitung auf andere Beeinträchtigungen muss weiterhin kritisch hinterfragt werden. Schließlich gilt es nach der UN-Behindertenrechtskonvention, die Chancengleichheit für alle Schülerinnen und Schüler zu gewährleisten, wie dies bereits seit Jahren beispielsweise in Bayern der Fall ist (BayEUG vom 31.05.2000).

Wir fordern deshalb, im Sinne einer chancengerechten Inklusion allen Schülerinnen und Schülern mit jeglichen lang andauernden erheblichen Beeinträchtigungen der Fähigkeit, ihr vorhandenes Leistungsvermögen darzustellen, Notenschutz in angemessener Form zu gewähren.

§ 2 Anwendungsbereich

Die Entscheidung, für zieldifferent beschulte Schülerinnen und Schüler in den Klassen 9 bzw. 10 die zieldifferente Beschulung aufzuheben, um den Erwerb des Ersten Schulabschlusses (ESA) bzw. Mittleren Schulabschlusses (MSA) zu ermöglichen, sollte automatisch mit der Gewährung von Notenschutz einhergehen.

Die gegenwärtigen Voraussetzungen für den Notenschutz, wie die zwölfmonatige inner- und außerschulische Förderung vor und während der Antragstellung, sind für diese Schülerinnen und Schüler nicht erfüllbar. Ihr Fokus in den Klassen 9 und 10 liegt auf dem Abschluss, sie haben bereits acht Jahre lang an der Bewältigung ihrer Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten gearbeitet. Im letzten Schuljahr sollte die erfolgreiche Erlangung des Abschlusses im Vordergrund stehen. Diese Gruppe der Schülerinnen und Schüler bedarf eines besonderen Schutzes, um die Chance auf einen ESA oder MSA zu haben.

Grundsätzlich sollte der Anwendungsbereich auf alle Schulformen und Lernsituationen ausgeweitet werden.

Der Elternkammer fehlen im Entwurf der Verordnung unter anderem die Schülerinnen und Schüler der ReBBZ und Sonderschulen, der Berufsschulen, der beruflichen Ausbildungsgänge, der Ausbildungsvorbereitungen, der beruflichen Gymnasien sowie auch Kinder und Jugendliche in besonderen Lernsituationen. Wir weisen darauf hin, dass dies keine abschließende Aufzählung ist.

§ 3 Begriffsbestimmung

Die Elternkammer fordert, dass als gleichwertige Testverfahren auch Diagnosen jugendpsychiatrischer Ärzte (KJPP) oder spezialisierter Lerntherapeuten anerkannt werden, weil diese den Grad der Beeinträchtigung und den Förderbedarf noch detaillierter abbilden als die standardisierten Tests der Schulen (beispielsweise Kombination von ELFE II mit SLRT II). Die Elternkammer sieht kritisch, dass Schülerinnen und Schüler Notenschutz erst in Anspruch nehmen können, nachdem sie an zwölfmonatigen Fördermaßnahmen teilgenommen haben, während dieses Zeitraums keinen Notenschutz bekommen und demzufolge schlechtere Noten in Kauf nehmen müssen.

§ 4 Test- und Diagnoseverfahren

Die Testverfahren ELFE (mindestens einmal jährlich) und SCHNABEL (zweimal pro Schuljahr) müssen verpflichtend für die Schulen durchgeführt und qualifiziert ausgewertet werden.

Kommt die Schule dieser Verpflichtung nicht nach, darf dies nicht zu Nachteilen für die betroffenen Schülerinnen und Schülern führen. Dies gilt auch für die Beantragung von AuL- Maßnahmen (zwei Tests hintereinander unterhalb des Prozentrangs).

Die Anforderung einer Unterschreitung von Prozentrang 5 beim ELFE-Test ist nicht klar nachvollziehbar. Bei einem Gesamtergebnis von über 5 % kann das Einzelmerkmal

„Textverständnis“ beispielsweise unter 5 % liegen. Die Anforderungsnorm ist deshalb analog zum SCHNABEL-Test auf „unter Prozentrang 10“ anzugleichen.

Für Testungen ab der 8. Klasse muss die Voraussetzung eines durchgeführten ELFE-Tests ohnehin entfallen, da als wissenschaftlich fundiert nur die ELFE 1-5 und ELFE 6-7 gelten können.

Betroffene, die aufgrund ihrer besonderen zusätzlichen Schwierigkeiten nicht in der Lage sind, den Test vollständig zu bearbeiten und damit keine Auswertung des Tests möglich ist, dürfen im Rahmen der Gewährung des Notenschutzes nicht benachteiligt werden.

Die Elternkammer fordert, dass alle Schülerinnen und Schüler, die die in § 3 genannten Prozentränge nicht erreichen, in einem ausführlichen persönlichen Beratungsgespräch zur Beantragung von Nachteilsausgleich, dem Angebot von schulischen und außerschulischen Fördermaßnahmen und zum Notenschutz beraten werden. Um dies durch die Lehrkräfte gewährleisten zu können, fordert die Elternkammer die Bereitstellung von zusätzlichen Ressourcen in Form von WAZ, weil der additive Beratungsaufwand anderenfalls nicht ressourcenneutral geleistet werden kann.

§ 5 Förderung

Die für die Beantragung von Nachteilsausgleich und Notenschutz verlangte Voraussetzung der Teilnahme an sechs- bzw. zwölfmonatiger Förderung „innerhalb UND außerhalb des Unterrichts“ muss in „innerhalb ODER außerhalb des Unterrichts“ geändert werden. Stunden in externen Lerntherapien sind deutlich zielführender als unspezifische Deutsch-Förderstunden, die im Rahmen der additiven Lernförderung angeboten werden. Diese wurden in der Vergangenheit auch als erfüllte Voraussetzung für Nachteilsausgleiche anerkannt. Gleiches soll auch für den Notenschutz gelten.

Parallel dazu müssen die Möglichkeiten der AuL-Förderung deutlich verbessert werden, zum einen durch die Ausdehnung der Förderjahrgänge auf einschließlich Klasse 9, zum anderen durch die deutliche Ausweitung der Zahl anerkannter Lerntherapeuten der „AuL- Therapeutenliste“. Diese Liste ist auf der Website der BSB zu veröffentlichen und so den Sorgeberechtigten transparent zugänglich zu machen.

Die erforderliche Voraussetzung der Teilnahme an den Fördermaßnahmen ist erfüllt, wenn die Schülerinnen und Schüler an mindestens der Hälfte der angebotenen Fördermaßnahmen teilgenommen haben. Für darüber hinaus gehende Versäumnisse muss ein wichtiger Grund vorliegen.

Die Elternkammer fordert, dass hier präziser definiert wird, was wichtige Gründe für Versäumnisse sein können.

Es muss klar zum Ausdruck kommen, dass aus wichtigem Grund versäumte Fördermaßnahmen die Voraussetzungen für die Beantragung des Notenschutzes gleichwertig erfüllen. Dies gilt ebenso für nicht ermöglichte Fördermaßnahmen aufgrund eines Auslandsjahres oder einer zieldifferenten Beschulung in vorangegangenen Schuljahren.

§ 6 Nachteilsausgleich

Die Elternkammer fordert, dass neben der Entscheidung über den Nachteilsausgleich auch die von der Zeugniskonferenz festgelegte Art und der Umfang des Nachteilsausgleichs den Betroffenen und den Sorgeberechtigten schriftlich mitgeteilt werden.

Zusätzlich muss, wie bisher auch schon in der „Handreichung Nachteilsausgleich“ geregelt, im Einvernehmen mit den Sorgeberechtigten und den Schülerinnen und Schülern der Nachteilsausgleich und die Möglichkeit der Beantragung eines Notenschutzes in einem persönlichen Gespräch erläutert werden.

§ 7 Antrag

Es muss gewährleistet sein, dass neben den betroffenen Schülerinnen und Schülern und ihren Sorgeberechtigten auch die Förder- und Klassenlehrkräfte sowie die Schulleitungen jederzeit den Vorgang der Beantragung von Notenschutz auslösen können. Dies ist besonders wichtig für die Chancengleichheit von Schülerinnen und Schülern, die aufgrund verschiedener Faktoren benachteiligt sind.

Die Elternkammer sieht es als unnötige bürokratische Hürde für alle Beteiligten, dass der Notenschutz auf ein Jahr begrenzt wird und damit jedes Jahr neu beantragt, werden muss. Nach dem vorliegenden Entwurf müssen jedes Jahr alle drei Voraussetzungen erfüllt sein, um den Notenschutz auch im nachfolgenden Schuljahr aufrechtzuerhalten.

Hier sollte eine niedrigschwellige Weitergewährung definiert werden.

§ 8 Art und Umfang des Notenschutzes

Die Elternkammer sieht die Formulierung in § 8 Abs. 3 kritisch: „Die Anforderungen im Lesen, in der Rechtschreibung oder im Lesen und in der Rechtschreibung müssen den Anforderungen des jeweiligen Bildungsplanes entsprechen.“ Dies widerspricht nach unserem Verständnis den in § 3 Abs. 1 bis 3 angeführten Voraussetzungen für den Notenschutz.

Die Abstufung in der Gewichtung zur Benotung im Lesen und Schreiben erfordert eine genauere Vorgabe, zum Beispiel mithilfe einer beispielhaften Erläuterung. Die Formulierung des Entwurfs in § 8 lässt sehr viel Spielraum für eine willkürliche Auslegung und Bewertung und birgt Konfliktpotenzial zwischen Betroffenen und der Zeugniskonferenz.

§ 9 Entscheidungen über den Notenschutz

Die Elternkammer fordert, dass neben der Entscheidung über den Notenschutz auch die von der Zeugniskonferenz festgelegte Art und der Umfang, insbesondere in welchem Maß die zurückhaltende Gewichtung der Anforderungen erfolgt, den Sorgeberechtigten schriftlich mitgeteilt wird.

Zusätzlich muss im Einvernehmen mit den Sorgeberechtigten und den Schülerinnen und Schülern die Gewährung des Notenschutzes in einem persönlichen Gespräch erläutert werden. Eine Entscheidung über den Antrag auf Notenschutz muss den Sorgeberechtigten innerhalb von 4 Wochen nach Antragstellung mitgeteilt werden.

§ 10 Notenschutz in der Studienstufe

Aus Sicht der Elternkammer sollte der Antrag auf Notenschutz jederzeit gestellt werden können und nicht nur am Beginn des 1. Halbjahres der Studienstufe. Studien belegen, dass durchaus auch erst sehr spät Lernbeeinträchtigungen festgestellt werden können. Das Nichtbemerken bzw. Versäumnis der Lehrkräfte darf nicht zulasten der Schülerinnen und Schüler gehen und daher muss die o.g. Regelung im Sinne der Chancengerechtigkeit aufgehoben werden.

Die Frist zur Rücknahme des Antrags auf Notenschutz für die Studienstufe von einer Woche nach Beginn des Unterrichts des ersten Halbjahres erscheint uns willkürlich zu knapp bemessen. Es ist nicht davon auszugehen, dass im ersten Monat des Schulhalbjahres bereits Klausuren geschrieben werden. Deshalb halten wir eine Frist von einem Monat für praktikabel und angemessen. In Fällen von abweichenden Wünschen von Sorgeberechtigten und betroffenen Schülerinnen und Schülern soll ab dem 16.

Lebensjahr der Wunsch des betroffenen Schülers / Schülerin maßgeblich sein. In den meisten Fällen wird ohnehin innerhalb der Studienstufe die Volljährigkeit erreicht.

§ 11 Vermerk im Zeugnis

Die Elternkammer fordert, die Formulierung des Vermerks zu präzisieren und in diese Verordnung aufzunehmen.

Elternkammer Hamburg

Hamburg, 09.07.2024

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